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AutorenbildAmelie Eck

Hebammentipp: Neugeborene verstehen


Neugeborenes Baby blickt über die Schulter der Mutter
[1] Vor der Geburt kennen die Kinder nur das Leben in der Gebärmutter - sie erleben sich als Einheit mit der Mutter

Als Neugeborenes bezeichnen wir einen Menschen in seinen ersten vier Lebenswochen. Die Gebärmutter war bis zum Zeitpunkt der Geburt alles, was dieser Mensch kannte. Sie ist die Welt, in der ein frisch geborenes Baby sein ganzes bisheriges Leben verbracht hat. Der Fötus erlebt sich als eine Einheit mit der Mutter. Das vergessen wir oft, denn diese Welt der „Einheit“ ist für uns Erwachsene kaum mehr nachvollziehbar.

    

Durch die Geburt sind die Kinder mit enorm vielen Veränderungen konfrontiert und fast alles, was sie aus der Schwangerschaft kannten, hat sich verändert. Dieser Umstand wird oft unterschätzt. Selbst die kleinsten Kinder werden mit oft absurden Erwartungen konfrontiert: Sie sollen möglichst durchschlafen, einen Rhythmus entwickeln und lernen selbstständig zu sein. Jene Erwartungen bringen jedoch Unruhe, Enttäuschung und Verwirrung in eine Zeit, die von Verständnis, Liebe und Fürsorge geprägt sein sollte: Das Wochenbett.


Der folgende Text möchte dazu inspirieren sich auf die Situation eines neugeborenen Menschen einzulassen und ihm mit Mitgefühl zu begegnen. Denn das Wochenbett ist vor allem eines: Eine Zeit des Ankommens und Kennenlernens. Je weniger Erwartungen diese Zeit trüben, desto entspannter können Kind und Eltern als Familie zusammen wachsen.

    

Der Übergang vom Föten zum Neugeborenen bringt viele Veränderungen mit sich:

 

Aus dem Fruchtwasser wird das Kind in eine Welt außerhalb des Wassers geboren: Föten verbringen ihr ganzes Leben im körperwarmen Fruchtwasser. Durch die Geburt erlebt ein Neugeborenes einen Temperatursturz von durchschnittlich 16 Grad.

 

Als Fötus kann sich das Kind mühelos bewegen – durch die Geburt wird es plötzlich mit der Schwerkraft konfrontiert. Da kann beispielsweise der Kopf nicht mehr ohne weiteres gedreht oder gar gehoben werden. Oder man liegt einfach auf dem Rücken und kann sich nicht umdrehen. Die Erfahrung ist wahrscheinlich in den ersten Stunden so befremdlich wie für uns das Gefühl der totalen Schwerelosigkeit.

 

Im Mutterleib hat das Kind ständigen Körperkontakt (mit der Innenwand der Gebärmutter) – nach der Geburt ist es davon abhängig, dass wir es berühren, hoch nehmen oder tragen, um nahen Körperkontakt zu spüren.

 

Im Mutterleib ist immer jemand da. Da ist Mutters Herzschlag, ihre Darmgeräusche und ihre Stimme. Nach der Geburt kann es still sein. Völlige Stille hat ein Fötus noch nie in seinem Leben erlebt.

 

Hunger. Ein Fötus kennt keinen Hunger. Die Plazenta versorgt ihn mit allen notwendigen Nährstoffen und er ist immer von Fruchtwasser umgeben, dass er trinken kann.

 

Berührungen fühlen sich nach der Geburt anders an – direkter, intensiver. In der Schwangerschaft puffern der Bauch der Mutter, die Gebärmutter und das Fruchtwasser die Direktheit der Berührungen ab. Föten werden normalerweise nie angefasst oder direkt berührt (Ausnahme: Monochoriale monoamniotische Mehrlinge).

 

Alles klingt anders. Geräusche klingen intensiver und lauter. Der Leib der Mutter sowie das Fruchtwasser filtern und dämpfen die Geräusche – dadurch hören Föten hauptsächlich die niederen Frequenzen. Hohe Geräusche kennen sie nicht. Die Stimme der Mutter bildet dabei eine Ausnahme, da sie direkt über den Körper transportiert wird.

 

Es ist hell nach der Geburt. Oft viel zu hell. Die gesamte Schwangerschaft verbringt der Fötus in Dunkelheit. Und dass wir zwischen Tag und Nacht unterscheiden weiß er natürlich auch nicht.

 

Neugeborene haben einen äußerst feinen Geruchssinn. Föten nehmen durch das Trinken des Fruchtwassers bereits viele Informationen auf (z.B. darüber, was die Mutter gegessen hat) aber riechen kann man erst an der Luft.

 

Ein Fötus hat keine Verdauung. Er trinkt und uriniert in das Fruchtwasser, der Darm jedoch verdaut nichts. Mit Geburt nimmt der Darm seine Tätigkeit auf. Peristaltik, Ausscheiden, Luft im Bauch – all das sind neue Erfahrungen.

 

Nach der Geburt entfaltet sich die Lunge zum ersten Mal. Was für uns Erwachsene eine Selbstverständlichkeit ist, muss ein kleiner Körper auch erst lernen: Ein regelmäßiges Atemmuster stellt sich erst mit der Zeit ein. Kleine Unregelmäßigkeiten sind völlig normal und sind kein Grund zur Besorgnis.

 

Ein Fötus trinkt Fruchtwasser, an der Brust zu trinken ist jedoch ein kleines Meisterwerk. Der Saugreflex ist angeboren, viele Neugeborene brauchen trotzdem etwas Zeit, um zu lernen, wie man richtig an der Brust andockt .

 

Föten sind nackt und sie werden nackt geboren. Kleidung ist ein neuer Reiz, der fast die gesamte Hautfläche betrifft. In Finnland gibt es keine Babykleidung mehr in den Krankenhäusern – die Eltern sollen ihre Kinder möglichst viel Haut-auf-Haut kuscheln. Im Übrigen spüren Föten mit ihren Fingerkuppen bereits ab der 12. Schwangerschaftswoche. Mund und Hände sind im Mutterleib wichtige Stimuli – sie sind immer da. Nach der Geburt sind die Hände weiterhin wichtige Sinnesorgane und sollten die Welt ohne Handschühchen kennen lernen dürfen. Einigen Kinder macht es Angst, wenn sie ihre eigenen Finger nicht mehr spüren können.

 

Die Organe sind noch unreif und nehmen langsam ihre Tätigkeit auf. Im Mutterleib übernahm die Plazenta die Aufgaben der kindlichen Lunge, der Nieren, der Leber, der Hormondrüsen und des Verdauungssystems. Ein Neugeborenes muss in den ersten Tagen sein komplettes Hämoglobin austauschen (was oft zur Neugeborenengelbsucht führt) – eine ganz schön anstrengende Sache für die kleine Leber.

 

Das Blutkreislaufsystem ändert sich schlagartig durch die Geburt – da werden Shunts (fetale Blutgefäßverbindungen) geschlossen, Druckverhältnisse ändern sich und die Sauerstoffsättigung steigt um ein vielfaches an.

 

Im Mutterleib war für alles gesorgt – jederzeit. Nach der Geburt müssen Bedürfnisse kommuniziert werden. Ein Fötus hingegen hat seine Bedürftigkeit und Abhängigkeit nie gespürt.

 

Du & ich. Ein Fötus ist den Gefühlen der Mutter direkt ausgesetzt. Sowohl Glücks- als auch Stresshormone werden über die Plazenta an das Kind weitergegeben. Ein Fötus ist niemals allein. Er kennt nur die Einheit mit der Mutter.

 

Gerade das Gefühl der Einheit fordern viele Kinder in den ersten Monaten zurecht ein. Deshalb empfehle ich das Tragen ganz besonders in den ersten Lebenswochen. Es schenkt Nähe, Wärme und direkten Körperkontakt. Die Enge im Tragetuch/ Trage erinnert an die Enge in der Gebärmutter. Wenn möglich, sollte Haut-auf-Haut getragen werden. Der Übergang in die neue Welt außerhalb der Gebärmutter kann auf diese Weise sehr sanft gestaltet werden.

 

Geburt ist ein Initiationsprozess: Das Kind wird ins Leben initiiert, die Eltern in die Elternschaft. Je unbefangener wir uns darauf einlassen, desto tiefer werden wir davon berührt. Es liegt an uns, in welchem Maß wir diesen Prozess zulassen und wie wir ihn gestalten. Je besser wir uns veranschaulichen, was der Übergang vom Fötus zum Neugeborenen bedeutet, desto liebevoller und kompetenter können wir unsere Kinder beim Ankommen begleiten.


Jedes Baby ist individuell. Zu erkennen, was genau die Bedürfnisse deines Babys sind, erfordert Zeit, Geduld und die Bereitschaft sich jeden Tag auf etwas Neues einzulassen.

Jede Bezugsperson ist ebenso individuell. Was genau für dich und dein Baby passt, wisst ihr selbst am Besten. Wichtig ist, dass es sich für euch beide richtig anfühlt.


Bildnachweis: [1] lizenzfrei, Photo by Hollie Santos on Unsplash


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